Spielsucht: Gewinn, Verlust, Verzweiflung
Rund 1,4 Millionen Euro unterschlug eine Finanzbuchhalterin aus Barnim (Brandenburg), um zocken zu können – und steht dafür jetzt in Berlin vor Gericht. Der aktuelle Fall zeigt die fatalen Folgen einer Erkrankung, die immer noch unterschätzt wird. Vor allem von den Betroffenen selbst, wie der Sozialpädagoge Norbert Hieronymi sagt.
„In der virtuellen Welt konnte ich die reale Welt ausblenden. Das Casino war wie ein Partner, oft saß ich sechs Stunden am Roulette. An Aufhören war nicht zu denken“ , so die Angeklagte Jeannette N., die sich, laut Bild-Zeitung, in 396 Fällen, wegen Veruntreuung und Betrug in besonders schwerem Fall, vor dem Berliner Amtsgericht Tiergarten verantworten muss. „Ich gestehe alles, ich bin spielsüchtig“ , gibt die 45-jährige zu Protokoll und wirkt dabei fast dankbar – als wäre sie endlich aus einem Alptraum erwacht.
In der Tat vergehen oft Jahre, bis sich Betroffene über ihre Situation klarwerden: „Der Anfang ist immer, ehrlich zu werden. Parallel zur Sucht entwickeln viele Süchtige ein System aus Ausreden und Lügen. Es will ja niemand süchtig sein“ , sagt der Sozialpädagoge Norbert Hieronymi, Leiter einer Beratungsgruppe für Spielsüchtige, im Interview mit dem Heilbronner Nachrichtenportal Stimme. „Viele gehen nach Feierabend in Spielhallen, um abzuschalten, Stress loszuwerden und in eine andere Welt abzutauchen. Das kann zur Gewohnheit werden“ , warnt der Suchtberater.
Abwärtsspirale Spielhölle
Der Fall Jeanette N. veranschaulicht an dieser Stelle den zumeist schleichenden Verlauf: Begonnen habe alles 2010, mit Roulette im Internetcasino. Da ihr Nettoeinkommen von monatlich 1.400 € schnell nicht mehr ausgereicht hätte, sah sie sich in die Kriminalität gezwungen und zockte mit fremdem Geld:
Für mich war das wie vorm Fernseher sitzen. Nur so konnte ich abschalten. Kleine Einsätze befriedigten mich bald nicht mehr. Verspieltes Geld musste ich unbedingt zurückgewinnen. Stellungnahme der Angeklagten Jeanette N.
Norbert Hieronymi beschreibt eine solche Entwicklung als Teufelskreis, womit er als Suchtberater täglich konfrontiert wird: „ Wir arbeiten in der Beratung mit dem Drei-Phasen-Modell: Gewinn − Verlust − Verzweiflung. Denn auf ‘s Gewinnen folgt die Verlustphase. Typisch ist dann die Vorstellung: Den Verlust hol‘ ich mir zurück. Spieler bauen da ein Trugsystem auf in dem Glauben, mit Ausdauer und Tricks den Automaten auszuspielen.“ Der aus Baden-Württemberg stammende Sozialpädagoge ist sich jedoch sicher: „Je regelmäßiger einer spielt, desto sicherer wird er verlieren.“
Ein Fass ohne Boden im Fall von Jeanette N.: Um ihre Verluste auszugleichen und für Kontodeckung zu sorgen, begann sie damit Firmengelder ihrer Arbeitgeber umzuleiten – vor Gericht ist die Rede von Falsch- und Umbuchungen, fingierten Rechnungen und manipulierten Zahlungsanweisungen zu ihren Gunsten. So erbeutete sie laut Bild-Zeitung genau 1.385.103 Euro und 41 Cent. Um ihre Sucht zu finanzieren habe sie acht Kollegen in die Arbeitslosigkeit, zudem eine Berliner Sicherheitsfirma sowie eine Anwaltskanzlei in den Ruin getrieben.
Burn Out und Realitätsverlust
Und Jeannette N. hat zockte weiter – gelockt von den „Champagner-Geschenken“ der Internetcasinos. Wenn sie mal länger nicht online war, so schildert sie, kam es zu Anrufen des Casinos und Zusendungen von „Bonusgeld”. Zu dieser Zeit war N. bereits völlig außer Kontrolle:
„Einmal machte ich aus 100 Euro in nur einer Stunde 20.000 Euro. Und verspielte sie gleich wieder.“
Außerdem spricht sie von Entzugserscheinungen: Unruhe, Schlafstörungen, Hautbrennen, Kopfschmerzen, miese Laune. Wirklich fit habe sie sich nur beim Spielen gefühlt.
Hier unterliegt Jeanette N. den klassischen physiologischen Ausreizungsmustern der Sucht: „Die Hirnforschung belegt, dass es bei Verhaltenssüchten ganz ähnlich wie bei Suchtmitteln im Gehirn zu Dopamin-Ausschüttungen kommt, die Hochgefühle bescheren. Und der Hirnstoffwechsel verschiebt sich mit der Zeit. Süchtige Spieler werden antriebslos für alles außer dem Glückspiel. Versuche, das Spielen zu unterlassen, scheitern. Es kommt zu Rückfällen“ , bestätigt Norbert Hieronymi.
„Süchtiges Verhalten ist ein Extrempol des Verhaltens, da es nicht mehr kontrolliert werden kann und automatisch, fast reflexhaft abläuft“ , so besagt es das Lehrbuch. In diesem Sinne gilt die Spielsucht, offiziell seit 1980, als psychische Erkrankung. Inwiefern sich dies strafmildernd auf Jeannette N. auswirken kann bleibt abzuwarten. Was ihre Zurechnungsfähigkeit angeht, besteht Klärungsbedarf, ebenso hinsichtlich ihrer Suchtausprägung. Wie es heißt, habe sich die Buchhalterin vor ihrer Festnahme ein wertvolles Wochenendgrundstück in der Brandenburger Schorfheide gekauft. Obwohl sie nach eigenen Angaben doch alles Geld verspielt habe. Das Urteil wird für den 23. März erwartet.